STREIT 4/2024
S. 182
VG Chemnitz, VG Chemnitz, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG
Flüchtlingseigenschaft für marokkanische junge Frau wegen häuslicher Gewalt und drohender Zwangsverheiratung
1. Frauen müssen insgesamt als einer sozialen Gruppe im Sinne der Richtlinie 2011/95 zugehörig angesehen werden, wenn sie aufgrund ihres Geschlechts häuslicher Gewalt ausgesetzt sind.
2. Alleinstehenden Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, steht in Marokko kein zumutbarer staatlicher Schutz zur Verfügung.(Leitsätze der Redaktion) Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 08.02.2024, Az.:4 K 1371/20.A
Zum Sachverhalt:
Die Klägerin ist eine 1997 geborene marokkanische Staatsangehörige und reiste 2020 in die Bundesrepublik ein, wo sie einen Asylantrag stellte, welchen das Bundesamt vollumfänglich ablehnte. Sie trug vor, ihr Heimatland verlassen zu haben, da sie sich von ihrem Vater und ihren Stiefmüttern und Halbgeschwistern schlecht behandelt fühlte. Ihr Vater habe sie mit einem älteren Mann verheiraten wollen und ihr sei es teilweise verboten worden zur Schule zu gehen. Er habe sie geschlagen und ins Zimmer gesperrt und von ihr verlangt, einen Hijab zu tragen. Von ihren vier Stiefmüttern sei sie wie ein Dienstmädchen behandelt und auch geschlagen worden. Ihre leibliche Mutter befände sich bereits seit 2013 in Deutschland. Eine gemeinsame Ausreise habe der Vater damals verboten. Die Klägerin befürchtet bei einer Rückkehr, dass sich der Vater aufgrund ihrer unautorisierten Ausreise an ihr rächen werde.
Aus den Gründen:
Die zulässige Klage ist begründet. […] Die Klägerin hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 ff. AsylG. Der Klägerin droht eine geschlechtsspezifische Verfolgung durch ihre Familie in Marokko. Das Gericht folgt der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in seiner Entscheidung vom 16. Januar 2024 wonach Frauen insgesamt als einer sozialen Gruppe im Sinne der Richtlinie 2011/95 zugehörig angesehen werden können und ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden kann, wenn die in dieser Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind. Dies ist der Fall, wenn sie in ihrem Herkunftsland aufgrund ihres Geschlechts physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt und häuslicher Gewalt, ausgesetzt sind (EuGH, Urt. v.16. Januar 2024 – C-621/21 juris).
Dieser Grundsatz ist auch auf den vorliegenden Fall anwendbar. Die Situation von Frauen in Marokko stellt sich wie folgt dar: Zwar wird in Marokko die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen in Art. 19 der marokkanischen Verfassung und in diversen internationalen Abkommen garantiert. Allerdings steht diese rechtliche Gleichstellung in starkem Kontrast zur tatsächlichen Lage in Marokko (zum Ganzen vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Marokko, 22. November 2022, Seite 15 ff.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – Österreich –, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Marokko,11. August 2023, Seite 35 ff.; Amnesty International, Report: Marokko 2022, 28. März 2023, Seite 4 f.).
Insbesondere im ländlichen Raum sind Frauen aufgrund der vorherrschenden traditionellen Einstellungen gesellschaftlichen Zwängen ausgesetzt. Vergewaltigung in der Ehe ist straflos, außerehelicher Geschlechtsverkehr dagegen strafbewehrt. Innerfamiliäre Gewalt kommt oft nicht zur Anzeige. In den seltenen Fällen, in denen doch Anzeige erstattet wird, bleiben die Verfahren für die Opfer oft ergebnislos, da die meist männlichen und voreingenommenen Richter in der Regel zugunsten der Männer entscheiden. Alleinerziehende Mütter und unverheiratete Frauen sind in besonderem Maße Diskriminierung ausgesetzt. Sie sind gesellschaftlich geächtet und werden häufiger Opfer sexualisierter Gewalt (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zu Marokko: Rückkehr für unverheiratete alleinstehende Frauen mit Kindern, 19. Dezember 2019). Aufgrund der wirtschaftlichen Situation in Marokko sind alleinstehende Frauen auch stärker von Armut betroffen als Männer. Nur etwa 21 Prozent der Frauen sind erwerbstätig, gegenüber 70 Prozent der marokkanischen Männer. Im Jahr 2022 erreichte Marokko beim Gender Inequality Index einen Wert von 0,62 und liegt damit auf Platz 136 von 146 Ländern.
Die Klägerin konnte vorliegend schlüssig und nachvollziehbar darlegen, in ihrem Herkunftsland Opfer häuslicher Gewalt durch ihren Vater und ihre Stiefmütter und Stiefgeschwister geworden zu sein. Darüber hinaus konnte sie glaubhaft darlegen, ihr Vater habe versucht, sie gegen ihren Willen zwangsweise zu verheiraten. Aufgrund der rechtlichen und tatsächlichen Lage in Marokko war ihr hiergegen kein zumutbarer staatlicher Schutz möglich. Das Gericht geht deshalb davon aus, dass die Klägerin vorverfolgt ausgereist ist. Es kann nicht mit der nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU erforderlichen Sicherheit angenommen werden, dass die alleinstehende Klägerin, welche ansonsten über kein verwandtschaftliches Netzwerk in Marokko verfügt, im Falle einer Rückkehr in ihr Heimatland nicht erneut von Verfolgung bedroht ist. […]