STREIT 2/2017

S. 79-80

VG Magdeburg, §§ 3 Abs. 1, 3 a, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG

Frauen als verfolgte soziale Gruppe im IS-Gebiet (Irak)

Frauen im Gebiet des IS, die von ihrer Erziehung her auf Gleichberechtigung geprägt sind, werden verfolgt.
Urteil des VG Magdeburg vom 14.06.2016, 4 A 557/15

Aus den Gründen:
Die Klägerin begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Die Klägerin ist nach eigenen Angaben irakische Staatsangehörige, kurdischer Volkszugehörigkeit, sunnitischer Religionszugehörigkeit. Sie reiste zu Beginn des Jahres 2014 in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte im März 2014 die Anerkennung als Asylberechtigte. Einen von der Beklagten übergebenen Fragebogen füllte sie aus und reichte ihn im April 2014 an die Beklagte zurück. Ein Bescheid erging zunächst nicht.
Nachdem die Klägerin zunächst mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 06.08.2015 Untätigkeitsklage gerichtet auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erhoben hatte, ist nunmehr unter dem 03.05.2016 ein Bescheid ergangen, der ihr den subsidiären Schutzstatus zuerkennt, den Asylantrag im Übrigen aber ablehnt. Bei ihrer Anhörung im Bundesamt im April 2016 gab die Klägerin an, sie habe in M. gelebt und dort als Kunstlehrerin in einer Grundschule gearbeitet. Sie habe ihren Ehemann, der in Deutschland über eine Aufenthaltserlaubnis verfüge, im August 2013 im Irak geheiratet. Die gemeinsame Tochter sei im Bundesgebiet geboren. In M. herrsche nunmehr der IS. Mit der umgestellten Klage verfolgt die Klägerin ihr ursprüngliches Begehren weiter. […]

Die Klage ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. […] Die Klägerin ist Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG. Danach ist unter anderem derjenige Ausländer Flüchtling, der sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung unter anderem wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen der Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
Die Klägerin befindet sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der irakischen Frauen, deren Identität aufgrund entsprechender Erziehung im Irak von dem Gedanken der Gleichberechtigung der Frau geprägt ist, außerhalb des Irak, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, dessen Schutz sie aber aufgrund der Situation in ihrem Herkunftsort (M.) nicht in Anspruch nehmen kann.
Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe auch dann vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft. Soziale Gruppe ist vorliegend die Gruppe irakischer Frauen, deren es aufgrund ihrer Identität, geprägt durch Erziehung in Zeiten eines Regimes, welches nicht religiös geprägt war, sondern Frauen als gleichberechtigt angesehen hat, nicht zumutbar oder nicht möglich ist, sich den insbesondere für Frauen sehr strengen Regeln an ihrem Herkunftsort, hier der vom IS beherrschten Stadt M., anzupassen (vgl. zu einer ähnlichen Definition der sozialen Gruppe im Hinblick auf Afghanistan: OVG Lüneburg, U. v. 21.09.2015, 9 LB 20/14, nach juris).
Irakische Frauen, die dieser Gruppe angehören, können sich je nach den Umständen des Einzelfalls aus begründeter Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG außerhalb des Irak aufhalten. Vorliegend ist davon auszugehen, dass dieser sozialen Gruppe in M. Verfolgung im Sinne von § 3 a Abs. 1, 2 AsylG droht. Danach kann Verfolgung die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt sein. Diese Verfolgung droht in M. von nichtstaatlichen Akteuren, die dieses Gebiet inzwischen in einer Weise beherrschen, die es derzeit ausschließt, dass der irakische Staat zum Schutz in der Lage ist. Diese Verfolgung droht auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.

Ausweislich des Lageberichtes des Auswärtigen Amtes vom 18.2.2016 werden Frauen im Gebiet des IS Opfer von Zwangsprostitution, Zwangsverheiratung und werden in ihrem Bewegungsradius stark eingeschränkt (vgl. S. 11 des Lageberichts). Sie müssen sich verschleiern (ebenfalls S. 11 des Lageberichtes). Ferner können ausweislich des Lageberichts (dort S. 12) die irakischen Streitkräfte insoweit keinen Schutz bieten. Frauen, die sich den nunmehr geltenden gesellschaftlichen Normen nicht anpassen, sind von Verfolgung bedroht, wobei wenig genügt, um unangenehm aufzufallen, wie etwa die Weigerung der Verwendung eines Schleiers.
Ob eine Frau mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Verfolgung ausgesetzt ist, bedarf einer umfassenden Würdigung des Einzelfalls, wobei anders als in Afghanistan, in M., Provinz N., eine im wesentlichen gleichartige Praxis der Verfolgung herrscht. Zwar trifft die Verfolgung insbesondere Andersgläubige, vor allem yezidische Frauen, die ohne weitere Voraussetzungen menschenrechtswidrig behandelt werden. Bei Abweichen von dem von einer Frau erwarteten Verhalten werden indes auch Frauen verfolgt, die der gleichen Glaubensrichtung angehören wie die IS-Kämpfer. Dementsprechend nimmt der Lagebericht des Auswärtigen Amtes (vom 18.02.2016, S. 11) auch keine dahingehende Differenzierung vor. Ein Schutz der Frauen durch Familienangehörige ist aufgrund der erheblichen Repressionen im Gebiet des IS nicht zu erwarten, die Zivilbevölkerung insgesamt wird terrorisiert (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18.02.2016, S. 12).

Ausgehend hiervon ist das Gericht davon überzeugt, dass die Klägerin im Falle einer Rückkehr in den Irak und insbesondere nach M. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu der vorgenannten sozialen Gruppe ausgesetzt wäre.
Das Gericht hat keinen Zweifel daran, dass die Erziehung der Klägerin sie dahingehend geprägt hat, dass es ihr nicht zugemutet werden kann, sich vollständig unterzuordnen. Die Klägerin hat wie ihre Schwestern einen eigenen Beruf erlernt. Sie hat in diesem Beruf gearbeitet. Der Beruf – Kunstlehrerin – ist ein Zeichen ihrer Unabhängigkeit. Die Klägerin war unverschleiert und ohne ihren Ehemann im Gerichtssaal. Sie wurde durch einen männlichen Prozessbevollmächtigten vertreten und machte insgesamt den Eindruck einer Frau, die ihre Ziele mit Bestimmtheit verfolgt. Sie ist allein hochschwanger aus dem Irak ausgereist. Sie stammt aus einem Land, welches zu ihrer Geburt und in der Zeit, in welcher sie aufgewachsen ist, von einem säkularen Staat geprägt war, in welchem Frauen gleichberechtigt waren. Sie kommt aus einem modernen, gebildeten Elternhaus, ihr Vater ist im Schuldienst tätig gewesen. Strukturen und Handlungsweisen, wie sie der IS den Frauen abverlangt, sind ihr fremd. Das Gericht ist daher überzeugt davon, dass die Klägerin nicht in der Lage wäre, sich dem Rollen- und Sittenbild des IS anzupassen und sich dem dort geforderten Lebensstil zu unterwerfen. Ähnlich einer westlich geprägten Frau ist es ihr jedenfalls aber nicht zumutbar, dies zu tun, denn sie müsste so den wesentlichen Kerngehalt ihrer Persönlichkeit aufgeben (vgl. hierzu auch OVG Lüneburg, a.a.O.). Sie wäre daher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in ihrer Heimatstadt M. geschlechtsspezifischen Gewaltakten ausgesetzt. Hiervor wird sie, wie oben bereits ausgeführt, keiner schützen können.
Der irakische Staat ist gleichfalls derzeit nicht in der Lage, vor derartigen Übergriffen in M. zu schützen. Er hat die staatliche Gewalt über dieses Gebiet verloren (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18.02.2016, S. 12).

Eine Fluchtalternative steht der bei Rückkehr alleinstehenden Klägerin auch nicht zur Verfügung. Zwar werden nicht sämtliche Teile des Irak vom IS beherrscht. Indes kann in den Nordirak nur derjenige, der dort über familiäre Kontakte verfügt, denn angesichts der Vielzahl an Flüchtlingen herrscht dort eine humanitäre Katastrophe; eine alleinstehende Frau mit Kleinkind wird dort nach der Überzeugung des Gerichts nicht Fuß fassen können (vgl. zur humanitären Lage im Nordirak: Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 28.03.2015 Update: Sicherheitssituation in der KRG-Region). Auch nach Ansicht des Auswärtigen Amtes (vgl. Lagebericht vom 18.02.2016, S. 15) ist die Region an die Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit gelangt. Angesichts der Tatsache, dass die Klägerin Sunnitin ist, ist es auch schwer vorstellbar, dass überwiegend schiitische Gebiete, wie etwa Bagdad, ihr als alleinstehender Frau mit Kind Schutz bieten können (vgl. zum Verhältnis Sunniten-Schiiten: Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18.02.2016, S. 8, 9, 12). Im Übrigen geht offensichtlich auch die Beklagte vom Fehlen einer Fluchtalternative aus, denn im Rahmen der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus hat sie eine solche nicht angenommen.