STREIT 3/2019
S. 137-139
BGH, § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB (n.F.)
Vergewaltigung durch Ausnutzen eines Überraschungsmoments
Ein Täter nutzt ein Überraschungsmoment im Sinne des § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB aus, wenn er die äußeren Umstände erkennt, aus denen sich ergibt, dass sich das Opfer keines sexuellen Angriffs auf seinen Körper versieht. Ferner muss er dieses Überraschungsmoment als Bedingung für das Erreichen seiner sexuellen Handlung dergestalt erfassen, dass er zumindest für möglich hält, dass das Opfer in die sexuelle Handlung nicht einwilligt und dessen Überraschung den Sexualkontakt ermöglicht oder zumindest erleichtert.
(amtlicher Leitsatz)
Urteil des BGH vom 13. Februar 2019 – 2 StR 301/18 – LG Wiesbaden
Aus den Gründen:
I.
Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Am frühen Morgen des 28. Oktober 2016 fuhren die Zeuginnen L. und B. im Taxi des Angeklagten. Als die Zeugin L. den Angeklagten bat, sie in der Nähe ihrer Wohnung abzusetzen, fuhr dieser, der sich spätestens nun entschlossen hatte, die Situation auszunutzen und die beiden jungen Frauen an einem abgelegenen Ort sexuell anzugehen, eigenmächtig weiter und hielt etwa 500 Meter hinter dem angegebenen Zielort an unbelebter Stelle. Die Zeuginnen waren irritiert und verunsichert. Sie bezahlten den vereinbarten Fahrpreis. Als beide auf der Beifahrerseite ausstiegen, lief der Angeklagte um das Fahrzeug herum zu ihnen. Er gab der Zeugin B. unvermittelt einen Zungenkuss, wobei er ihren Kopf mit seinen Händen so umfasste, dass es der Zeugin nicht gelang, ihren Kopf wegzudrehen. Unmittelbar darauf wandte sich der Angeklagte, der zwischen den beiden Frauen stand, der Zeugin L. zu, hob sie an der Taille hoch, so dass sie mit den Füßen den Boden nicht mehr berührte, drückte sie gegen das Taxi und gab auch ihr gegen ihren Willen einen Zungenkuss; ihren Kopf hielt er dabei fest. Der Zeugin B., die unmittelbar daneben stand, gelang es, die Zeugin L. am Arm zu greifen, sie wegzuziehen und gemeinsam mit ihr zu flüchten (Fall II. 1 der Urteilsgründe). […]
2. Die Zeugin W. bestieg am 1. Januar 2017 das Taxi des Angeklagten, damit dieser sie nach Hause fahre. Als sie ihn kurz vor Erreichen des Zielortes bat, sie abzusetzen, bremste der Angeklagte, der sich spätestens jetzt entschloss, die Zeugin sexuell zu bedrängen, abrupt ab, fuhr halb auf den Bürgersteig, beugte sich über die auf dem Beifahrersitz angeschnallte Zeugin, so dass er „praktisch auf ihr lag“, und gab ihr einen Zungenkuss. Die Zeugin, die damit nicht gerechnet hatte, drehte sich nach rechts weg und sagte, der Angeklagte solle das lassen. Mit ihrer linken Hand stieß sie ihn weg. Dies nutzte der Angeklagte, der zwischenzeitlich von ihr unbemerkt seine Hose geöffnet hatte, um ihre Hand zu packen und an sein nacktes, erigiertes Glied zu führen. Der Zeugin gelang es nach einer kurzen Berührung des Gliedes, ihre Hand wegzuziehen. Bei einem erneuten Versuch, sie zu küssen, biss sie ihm in die Lippe. Der Angeklagte fasste der Zeugin mit einer Hand in den bekleideten Schritt und mit der anderen Hand an die bekleidete Brust, wobei es zu einem Gerangel kam.
Die Zeugin W. rechnete sodann mit dem Schlimmsten. Gleichwohl wollte sie den Fahrpreis von 14 € entrichten, drückte dem Angeklagten 20 € in die Hand und forderte ihr Wechselgeld. Als er daraufhin erwiderte, sie bekomme ihr Wechselgeld, wenn sie ihm einen „blase“, öffnete sie entsetzt die unverriegelte Tür und rannte zu ihrer Wohnung (Fall II. 2 der Urteilsgründe). […]
3. Die 17-jährige Zeugin F. wollte sich am 26. März 2017 gegen vier Uhr nachts auf den Heimweg nach N. machen und dazu mit einem Taxi fahren. Da sie nur 14 € Bargeld bei sich hatte und wusste, dass die Fahrt teurer sein würde, fragte sie den Angeklagten nach einem Pauschalpreis. Dieser forderte sie auf, weitere Fahrgäste zu suchen, mit denen sie sich den Fahrpreis teilen könne. Die Zeugin fand zwei Mitfahrerinnen, die jedoch in die entgegengesetzte Richtung fahren wollten. Der Angeklagte erklärte sich gleichwohl bereit, zunächst die beiden anderen Fahrgäste zu befördern und sodann die Zeugin nach N. zu fahren. An ihrem Zielort stiegen die beiden Mitfahrerinnen aus und zahlten den über den Taxameter ermittelten Fahrpreis.
Der Angeklagte fuhr Richtung N. Ungeachtet des vereinbarten Festpreises lief der Taxameter, weil er die Absicht hatte, auf die nunmehr allein in seinem Taxi befindliche jugendliche Zeugin Druck auszuüben, da der eigentliche Fahrpreis deutlich über dem lag, was sie mit den ihr noch zur Verfügung stehenden Barmitteln würde begleichen können. Nachdem die Zeugin auf Nachfrage wahrheitsgemäß mitgeteilt hatte, dass sie 17 Jahre alt sei, erklärte der Angeklagte, um weiter psychischen Druck auszuüben, dass er die Polizei verständigen könne, weil sie als Minderjährige um diese Uhrzeit allein unterwegs sei. Dies löste bei der Zeugin ein Druckgefühl aus, weil sie sich vorstellte, der Angeklagte könne tatsächlich die Polizei verständigen, und weil ihre Eltern sie vor nächtlichen Kontrollen durch die Polizei gewarnt hatten.
Der Angeklagte lenkte das Gespräch auf sexuelle Themen, was der Zeugin seltsam vorkam. Sie lotste ihn in eine Seitenstraße in der Nähe ihrer eigentlichen Wohnanschrift, damit er nicht erfuhr, wo sie wohnte. Nach der Ankunft händigte sie ihm den vereinbarten Fahrpreis aus. Der Angeklagte erklärte, dass dies − angesichts der höheren Taxameteranzeige − nicht genug sei. Als die Zeugin seiner Aufforderung, das Geld von zu Hause zu holen, nicht nachkam, packte er sie unvermittelt am Arm, zog sie zu sich herüber und gab ihr einen Zungenkuss, woraufhin sie sich mit dem ganzen Körper zur Seite wegdrehte. Der Angeklagte, der inzwischen von der Zeugin unbemerkt seine Hose geöffnet hatte, ergriff daraufhin mit strammen, aber nicht schmerzhaftem Griff ihre Hand, führte sie bestimmend zu seinem nackten Glied und legte sie darauf; es hätte eines gewissen Kraftaufwandes bedurft, um sich aus dem Griff zu befreien. Als es der Zeugin gelang, ihre Hand wegzuziehen, sagte er zu ihr „nur ein Kuss“, was sie, wie vom Angeklagten gemeint, angesichts des entblößten Glieds und der vorangegangenen Berührung dahingehend verstand, dass er sie zum Oralverkehr aufforderte. Weil sie nach wie vor innerlich unter dem Druck stand, dass der Angeklagte die Polizei rufen und sie anderweitig nicht aus der Situation entkommen könne, nahm sie den nackten, erigierten Penis des Angeklagten in den Mund und führte – wenn auch nur wenige Sekunden – den Oralverkehr bei ihm aus, ohne dass er zum Samenerguss kam. Seiner Aufforderung, diesen fortzusetzen, kam sie nicht nach und verließ das Taxi (Fall II. 4 der Urteilsgründe). […]
II. […]
a) Die Verurteilung wegen sexueller Nötigung in zwei Fällen zum Nachteil der Zeuginnen L. und B. (Fall II. 1 der Urteilsgründe) hat Bestand.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind höchstpersönliche Rechtsgüter verschiedener Personen und deren Verletzung einer additiven Betrachtungsweise, wie sie etwa der natürlichen Handlungseinheit zugrunde liegt, nur ausnahmsweise zugänglich. Greift daher der Täter einzelne Menschen nacheinander an, um jeden von ihnen in seiner Individualität zu beeinträchtigen, so besteht sowohl bei natürlicher als auch bei rechtsethisch wertender Betrachtungsweise selbst bei einheitlichem Tatentschluss und engem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang regelmäßig kein Anlass, diese Vorgänge rechtlich als eine Tat zusammenzufassen. […]
Hieran gemessen ist die Wertung des Landgerichts als tatmehrheitliche Begehung nicht zu beanstanden. Der enge zeitliche und situative Zusammenhang bedingt (noch) keine willkürlich oder gekünstelt erscheinende Aufspaltung. […]
b) Auch im Fall II. 2 der Urteilsgründe tragen die rechtsfehlerfreien Feststellungen den Schuldspruch wegen sexuellen Übergriffs nach § 177 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 1 StGB.
aa) Das Landgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Angeklagte sexuelle Handlungen an der Geschädigten vorgenommen und dabei ein Überraschungsmoment ausgenutzt hat, indem er nach seinem Entschluss, die Zeugin W. sexuell zu bedrängen, aus zügiger Fahrt abrupt abbremste, halb auf den Bürgersteig fuhr, sich über die auf dem Beifahrersitz angeschnallte Zeugin beugte und ihr, für sie unerwartet, einen Zungenkuss gab.
(1) § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB ist durch das 50. Strafrechtsänderungsgesetz (Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung vom 4. November 2016, BGBl. I S. 2460) eingeführt worden. Zu der Frage, welche Anforderungen an die subjektive Tatseite dieser Tatbestandsvariante zu stellen sind, hat sich der Bundesgerichtshof bisher nicht geäußert.
(a) Im Schrifttum werden zu dieser Frage unterschiedliche Auffassungen vertreten. […]
(2) Nach alldem gilt unter Beachtung des Willens des Gesetzgebers, des Wortlautes, der systematischen Betrachtung und des Zwecks der neugefassten Norm unter Anknüpfung an die bisherige Rechtsprechung zu den § 177 Abs. 1 Nr. 3, § 179 StGB a.F. daher Folgendes:
Der Täter handelt in der Tatbestandsvariante des § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB jedenfalls dann vorsätzlich, wenn er weiß, dass er eine sexuelle Handlung unter Einbeziehung des Opfers vornimmt, und er sich gerade das Überraschungsmoment zunutze macht. Letzteres setzt zunächst voraus, dass er die tatsächlichen Voraussetzungen der Überraschung des Opfers wahrnimmt, mithin die äußeren Umstände erkennt, aus denen sich ergibt, dass sich das Opfer keines sexuellen Angriffs auf seinen Körper versieht oder eines solchen zwar noch im letzten Moment gewahr wird, aber wegen der Schnelligkeit der Abläufe zur Bildung oder Kundgabe eines ablehnenden Willens außer Stande ist. Ferner muss der Täter das Überraschungsmoment als Bedingung für das Erreichen seiner sexuellen Handlung dergestalt erfassen, dass er zumindest für möglich hält, dass das Opfer in die sexuelle Handlung nicht einwilligt und dessen Überraschung den Sexualkontakt ermöglicht oder zumindest erleichtert.
Dementsprechend fehlt es am Vorsatz, wenn der Täter annimmt, die überraschende Handlung werde der anderen Person willkommen sein (MüKo-StGB/Renzikowski, a. a. O., § 177 n.F. Rn. 86; Schönke/Schröder/Eisele, StGB, 30. Aufl., § 177 Rn. 44; Fischer, a. a. O., § 177 Rn. 41). Kennen sich Täter und Opfer jedoch nicht oder nur flüchtig, wird eine sexuelle Handlung regelmäßig unter „Ausnutzung“ vorgenommen, da der Handelnde durchweg mit dem Unwillkommensein seines Tuns rechnen muss (SSW-StGB/Wolters, a. a. O., § 177 Rn. 47; MüKo-StGB/Renzikowski, a. a. O., § 177 Rn. 86).
Gemessen hieran belegen die rechtsfehlerfreien Feststellungen des Landgerichts, dass der Angeklagte nach der festgestellten Tatsituation – abruptes Bremsen bei zügiger Fahrt, das Hinüberbeugen auf die im Beifahrersitz angeschnallte Zeugin – jedenfalls mit einem Blick erfasste, dass die ihm fremde Zeugin aufgrund des Überraschungsmoments unfähig war, einen entgegenstehenden Willen zu bilden und zu äußern, und dass dies seine Tatbegehung erst ermöglichte bzw. jedenfalls begünstigte. Angesichts dieser Tatsituation liegen die Überraschung der Zeugin und das Ausnutzungsbewusstsein des Angeklagten auf der Hand. Sie bedurften keiner tiefergehenden Erörterung durch das Landgericht.
bb) Soweit die Urteilsgründe – entgegen dem zutreffenden Schuldspruch wegen sexuellen Übergriffs – im Fall II. 2 der Urteilsgründe ausführen, der sexuelle Übergriff nach § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB stünde in Tateinheit zum sexuellen Übergriff nach § 177 Abs. 1 StGB, hält dies rechtlicher Überprüfung jedenfalls in der hier gegebenen Fallgestaltung nicht stand. […]
cc) Der Senat ändert deshalb den Schuldspruch in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO selbst ab. […]
Mitgeteilt von RAin Sabine Platt, Wiesbaden